“In My Room” von Ulrich Köhler: Robinson in Ostwestfalen



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Das letzte, was Armin von der bevölkerten Welt sieht, ist ein Partyschiff, das mit Diskolicht und ekstatisch tanzenden Menschen nachts auf der Weser an ihm vorbei fährt. Danach hat der Kameramann aus Berlin einen Filmriss, vielmehr einen Glitch, und nichts ist mehr wie zuvor: Halbbetankte Autos stehen mit angelbadenem Motor an Tankstellen, führerlose Lkw haben sich auf Straßen ineinander geschoben, das Partyschiff treibt unbemannt auf dem Fluss.

Zwischen zwei Einstellungen in “In My Room” verschwinden die Menschen, eine Setzung, die im Film nicht erklärt wird, und die aus ihm ein Genrestück macht: zunächst einen dystopischen Science-Fiction-Film, in dem ein Mensch durch eine postapokalyptische Welt taumelt; dann eine Robinsonade, in dem sich der gleiche Mensch aus zivilisatorischen Überresten eine neue Welt schafft.

Wir haben Armin vorher als nicht sehr sympathischen urbanen Höhlenbewohner kennen gelernt. Wagt er sich als Kameramann in die Welt, verwechselt er An- und Ausschaltknopf und liefert Bilder von Politikerinterviews ab, auf denen das Wichtige, die Statements, fehlt. In seiner im Erwachsenenleben konservierten Studentenwohnung versucht er erfolglos, eine sehr viel jüngere Frau zu verführen. Aus dem Jugendzimmer in seinem ostwestfälischen Geburtskaff heraus schaut er seiner Großmutter beim Sterben zu.

Neue Bewegungen, neue Muskeln

“In My Room” heißt Ulrich Köhlers neuer Film, wie schon bei “Bungalow” (2002) und “Montag kommen die Fenster” (2006) erzählt er von unbehausten Helden, die sich einzurichten versuchen und dabei von einer schrägen Wohnsituation in die nächste geraten. Der Titel des neuen Films ist ein Beach-Boys-Zitat: Wer sich in seinem Zimmer vergräbt, denkt, er könne alle Ängste und Sorgen ausschließen, heißt es da. Als Armin sich schließlich in die Welt hinaus wagt, hat sich so ziemlich alles, was ihm Ängste und Sorgen bereitet, scheinbar in Luft aufgelöst.

So lakonisch Ulrich Köhler im ersten Filmdrittel Armins Leben skizziert, so lässig lässt der den Spezialeffekt zünden. Wenige Bilder genügen, um die Welt von “In My Room” neu zu sortieren: Ostwestfalen plötzlich menschenleer, herrchenlose Hunde bellen, Pferde harren vergessen in Autoanhängern aus, Armin nimmt sich das schnellste verwaiste Auto, das er finden kann, und brettert ungehindert durch die Dörfer.



“In My Room”
Deutschland 2018

Buch und Regie: Ulrich Köhler
Darsteller: Hans Löw, Elena Radonicich, Michael Wittenborn, Ruth Bickelhaupt
Produktion: Pandora Filmproduktion, Echo Film, Komplizen Film et al.
Verleih: Pandora Filmverleih


FSK: 12 Jahre
Länge: 120 Minuten
Start: 8. November 2018


Erneut gibt es einen Filmriss, ganz so, als hätte auch Köhlers Kameramann Patrick Orth Ein- und Ausschaltknopf verwechselt. Plötzlich ist Sommer, die Vorgärten im Kreis Minden schon von Unkraut überwuchert, Wildschweine laufen über die Autobahn, die Angebote im Einkaufszentrum sind immer noch die gleichen. Armin hat nun einen Bart, einen sehnigen, halbbekleideten Naturmenschenkörper, er führt uns mit sicheren Bewegungen in sein neues Zimmer: eine Hütte mit Tieren, eine aus den umliegenden Häusern zusammengesammelte Schöner-Wohnen-Einrichtung, selbst genähte Schonbezüge für den Verandasessel.

Hans Löw spielt den Robinson nicht als Spezialeffekt, sondern als tatsächliche Verkörperung: Neue Bewegungen ergeben neue Muskeln. Die Kamera beobachtet diesen Körper genau, interessiert sich für seinen neuen Bezug zur Welt, für das, was er mit seinen Freiheiten anfängt.

Wie in Vlotho

“In My Room” ist ein Glücksfall des deutschen Kinos. Die wilde Aneignung von Genreformeln wirkt wie ein frischer Wind in den aktuellen filmischen Bestandsaufnahmen zur Lage der Nation, und gleichzeitig ist es sehr besonders, wie verhalten Köhler seine postapokalyptische Spekulation ausformuliert: Robinsons menschenleeres Paradies verbleibt im Radius von Ostwestfalen-Lippe, sein neuer Wohnraum sieht schnell wie ein Einfamilienhaus in Vlotho aus, er kocht nach einem Rezeptbuch seiner Oma, und man würde sich nicht wundern, wenn er aus der verwaisten Videothek immer nur Filme mit Ben Affleck ausleihen würde.

Und trotzdem – oder gerade deswegen – zieht einem der Film den Boden unter den Füßen weg.

Im Video: Der Trailer zu “In My Room

Im letzten Drittel sehen wir plötzlich Armin aus einer anderen Beobachterperspektive. Robinson ist nicht allein. Freitag ist eine Frau, und sie wird sich nicht in seiner Welt einrichten. Aber auch das funktioniert in “In My Room” nicht als Spezialeffekt, sondern als schräger Witz über das, was Menschen sich unter Freiheit vorstellen.

Manchmal ist das nur eine Tüte Gummibärchen aus dem unbewachten Tankstellenshop. Oder ein Song von den Pet Shop Boys.

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